Ein Mann ein Werk

enorm, Oktober 2011

Ein Mann, ein Werk

Er war Hafenarbeiter, Preisboxer und Einsiedler, ehe er seine Bestimmung fand: Seit über 50 Jahren predigt der Philosoph Frithjof Bergmann mit „New Work“ eine neue Form des Arbeitens. General Motors war der erste Konzern, der ihn erhörte. Heute sind es Wirtschaftsbosse aus aller Welt.

“Ich habe etwas wahnsinnig Aufregendes mitgebracht“, sagt Frithjof Bergmann verschwörerisch. Der Mann mit dem wilden Bart und weichen Augen zieht ein Plastiktütchen aus der Tasche. Darin: ein in Form gepresster, bräunlicher Klumpen, der ihn bei einer Drogenkontrolle mit Sicherheit in Schwierigkeiten gebracht hätte. „Das ist Ökozement“, erklärt Bergmann seinen Zuhörern. Kunstpause. Dann grinst er.

Den Klumpen hat Bergmann aus Südafrika mit ins österreichische Schlierbach genommen zu einem Workshop der Spes Zukunftsakademie. Bergmann hält hier Vorträge und diskutiert mit Experten aus Regierung, Wirtschaft und Wissenschaft. Der Ökozement, sagt er, soll das Bauen in Entwicklungsländern revolutionieren. Hergestellt werde er aus einer Art Klebstoff und Erde. „Ökozement ist günstig und leicht zu handhaben“, schwärmt Bergmann. Zehn ungeübte Personen könnten daraus an einem Tag ein Haus bauen.

Bergmann, Jahrgang 1930 und in Sachsen geboren, reist nahezu ununterbrochen durch die Welt – aus den Slums in Johannesburg in Österreichs dörfliche Idylle, aus armen indischen Landstrichen ins vom Niedergang der Automobilindustrie gebeutelte Detroit. Braune Klumpen hat er nur ausnahmsweise dabei, immer im Gepäck aber ist sein Konzept: New Work, also Neue Arbeit, ein Modell des Wirtschaftens und Arbeitens, das die Menschen von ihren ökonomischen Zwängen befreien, ihnen eine neue Form des Wohlstands und eine höhere Lebensqualität ermöglichen soll. Bergmann diskutiert darüber mit Regierungsvertretern, Managern und sozialen Institutionen, er arbeitet mit Arbeitslosen, Indianerstämmen und den Ärmsten der Armen in der Dritten Welt.

Das Konzept New Work, von Bergmann in jahrzehntelanger Denkarbeit und praktischer Erprobung entwickelt, klingt für viele Zuhörer seiner Vorträge bestechend – ist aber auch komplex, vielschichtig und erklärungsbedürftig. Zu stark will es in die bestehenden Strukturen eingreifen, fordert in großen Teilen ihre komplette Umwandlung. Bergmann wiederholt einen Satz fast wie ein Mantra: „Unser Jobsystem hält uns im Würgegriff. Die einen arbeiten bis zum Burn-out, die anderen versinken in Arbeitslosigkeit und Lethargie. Es gibt keine andere Möglichkeit als einen radikalen Neuanfang.“

Der Visionär sprudelt nur so über von Ideen für mögliche Projekte. Nicht nur der Ökozement, auch die Algenzucht des Österreichers Johann Staudinger, der auch am Workshop in Schlierbach teilnimmt, hat es ihm angetan: Die Algen wandeln klimaschädliches CO2 in Sauerstoff um, eignen sich als schnell wachsender Brennstoff und gesundes Nahrungsmittel. Bergmanns Vorstellung ist, dass diese Algen künftig in armen Dorfgemeinschaften gezüchtet werden. Ebenso begeistert Bergmann sich für die Produktion eines an der TH Aachen entworfenen Elektroautos, das zu einem Preis von 5000 Euro auf den Markt kommen soll. Ginge es nach ihm, würde es als Bausatz konzipiert und in regionalen Werkstätten zusammengesetzt: Selbstproduktion und Selbstversorgung stehen für eine der großen Umwälzungen, die Bergmann mit New Work verfolgt.

Im Sinne der sogenannten Grundwirtschaft sollen alle technischen Errungenschaften dazu genutzt werden, die Dinge des täglichen Lebens nicht in großen Konzernen, sondern in kleinen Gemeinschaften vor Ort zu produzieren – in den Zentren für Neue Arbeit. Das gilt für Nahrungsmittel, für Kleidung, für Häuser, für Energie und eben auch für Autos. Neue Computertechnologien könnten dabei zunehmend Möglichkeiten eröffnen, etwa 3D-Drucker für Produkte aus Kunststoff, mit denen sich in Zukunft auch ohne große Fertigungsanlagen Bauteile herstellen ließen.

Die Selbstversorgung vor Ort, sagt Bergmann, sei günstiger und mindere die Abhängigkeit von der Lohnarbeit. Zudem biete sie Menschen einen Lebensinhalt, die im bestehenden Jobsystem keinen Platz haben. Sinn- und ziellose Warenproduktion sowie gedankenloser Konsum fänden ein Ende, weil die Menschen dann selbst entscheiden, was sie zu einem erfüllten Leben benötigen. „100 verschiedene Sorten Zahnpasta werden es ganz sicher nicht sein“, sagt Bergmann.

Ebenfalls mit Selbstbestimmung hat die zweite große Säule des Modells Neue Arbeit zu tun. Bergmann will den Menschen zu einer Beschäftigung verhelfen, die sie ausfüllt und glücklich macht, die ihnen Kraft gibt. Er sagt: „Nicht wir sollten der Arbeit dienen, die Arbeit sollte uns dienen. Sie sollte nicht alle Kräfte auszehren und uns erschöpfen, sie sollte uns dabei unterstützen, lebendigere, vollständigere und stärkere Menschen zu werden.“ Oft ruiniere die Arbeit in ihrer heutigen Form alles: die Gesundheit, die Partnerschaft und das Verhältnis zu den Kindern. Da es jedoch alles andere als leicht sei, sich aus dem bestehenden System zu befreien und kaum jemand dies aus eigener Kraft schaffe, will Bergmann möglichst viele Menschen auf diesem Weg coachen und beraten. Ein grundlegendes Buch über sein Modell hat er vor einigen Jahren vorgelegt. Der Titel: „Neue Arbeit, neue Kultur“.

Aus Bergmann spricht nicht nur der Philosoph und Denker, sondern auch viel Lebenserfahrung. Er hat selbst intensiv nach der passenden Lebensform gesucht. Im ländlichen Österreich zur Schule gegangen, entfloh der damals 19-Jährige der engen Dorfgemeinschaft mit einem Stipendium in die USA. Als dieses abgelaufen war, jobbte er am Fließband und im Hafen, schrieb Theaterstücke und verdiente sein Geld als Preisboxer. „In dieser Zeit wusste ich vor allem, was ich nicht wollte, nämlich zurück nach Österreich.“

In Princeton studierte Bergmann dann Philosophie, promovierte mit einer Arbeit über den Philosophen Hegel, mit 24 Jahren bereits wurde er Dozent. Doch die Lehrtätigkeit an der Eliteuniversität erfüllte ihn nicht und er zog als absoluter Selbstversorger in die Einöde. Aber auch hier fand er nicht die gesuchte Freiheit: „Ich lebte so nah an der Natur, dass ich meine ganze Zeit damit verbrachte, Holz zu hacken“, sagt er. „Das war selbst eingebrockte Sklaverei.“ Die Erfahrung brachte ihn immerhin auf die Idee mit der Selbstversorgung auf hohem technischen Niveau.

Seine akademische Bestimmung fand Bergmann doch noch: An der University of Michigan, in unmittelbarer Nähe zu Detroit, dem Zentrum der amerikanischen Automobilindustrie. Hier beschäftigte er sich mit den Rechten der Arbeiter, der Automatisierung und der zunehmenden Arbeitslosigkeit. Hier fühlte er, dass sein Wirken Sinn machte. Und hier kam es zu einer aufsehenerregenden Zusammenarbeit mit dem Autohersteller General Motors. Um die in den 80er-Jahren drohenden Massenentlassungen abzuwenden, entwarf Bergmann für das
GM-Werk in Flint eine spezielle Art der Teilzeit- oder Kurzarbeit: Ein halbes Jahr arbeitete die eine Hälfte der Belegschaft am Fließband, ein halbes Jahr die andere. In der jeweils freien Zeit erhielten die Arbeiter die Möglichkeit, sich neue Beschäftigungsfelder zu suchen und sich mit Ideen selbstständig zu machen. Dazu richtete Bergmann ein Zentrum für Neue Arbeit ein, in dem die Arbeiter beraten und gecoacht wurden. So entdeckte zum Beispiel ein ehemaliger Fließbandarbeiter seine Begeisterung für Yoga und eröffnete ein Studio. Eine Arbeiterin wurde Lehrerin für balinesische Kultur- und Kunstformen.

Auch heute hat es Bergmann wieder mit der amerikanischen Autoindustrie zu tun. Er arbeitet in Detroit, der Stadt, die sich durch die wirtschaftliche Notlage von GM, Chrysler und Ford in ein einziges Krisengebiet verwandelt hat. Viele Menschen haben ihren Job und auch ihre Häuser verloren. Zahlreiche Einwohner sind bereits geflüchtet, die Natur hat sich weite Teile der Stadt zurückerobert. Bergmann engagiert sich für den ehemaligen Fabrikstandort Highland Park. Im Sinne der Grundwirtschaft entstehen hier mit der Unterstützung von Stiftungen und Spendern Foodhäuser, in denen Obst und Gemüse angebaut wird. Die Pläne sehen auch eine Fischzucht vor, die benötigte Energie soll aus Geothermie gewonnen werden.

Wie in Highland Park will Bergmann überall auf der Welt Oasen der Neuen Arbeit entstehen lassen – als Antwort auf die jeweils drängenden Fragen der Region. Diese Vorstellung gefällt auch der Spes Zukunftsakademie, die Kommunen in Österreich und Deutschland berät. „Wir versprechen uns von Bergmann wichtige Impulse für die Arbeit mit den Gemeinden“, sagt Wolfgang Mader aus der Geschäftsleitung. Mit Unterstützung der Spes Zukunftsakademie haben bereits vier Gemeinden in Oberösterreich ein sogenanntes Offenes Technologielabor ins Leben gerufen, in dem Menschen allen Alters für die Gemeinwirtschaft begeistert werden und sich in eigenen technischen oder kreativen Projekten ausprobieren können. Weitere Beratungsschwerpunkte sind wohnortnahes Produzieren und regionales Selbermachen.

„Gemeinsam mit den Gemeinden überlegen wir, welche Technologien für sie den größten Nutzen haben, die Menschen in der Region stärken und zudem nachhaltig sind“, sagt Mader. Er steht stellvertretend für die Berater, Professoren und Unternehmer, die Bergmann getroffen haben und von seinen Ausführungen fasziniert sind. Bergmann inspiriert sie, sich für Ökologieprojekte, Selbstbestimmung und regionalen Zusammenhalt zu engagieren. Er bestärkt sie, über alternative Wirtschafts- und Lebensmodelle oder einen Einsatz für Benachteiligte nachzudenken. Und das schon lange vor den Diskussionen um Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Stabilität oder der Social-Business-Bewegung.

Bergmann will Pioniere – etwa in Sachen Regionalwährung, dezentraler Energieversorgung oder Coaching – stärker vernetzen und auf diese Weise ihre Schlagkraft erhöhen. Beseelt von seiner Mission wäre Bergmann am liebsten auf der ganzen Welt gleichzeitig, würde diskutieren, beraten, überzeugen. Gefragt, ob er denn überhaupt ein Zuhause besäße, kommt die Antwort zögerlich. Ein Zuhause vielleicht nicht direkt, aber einen wichtigen Rückzugsort gebe es, sagt er schließlich. Ein Haus in Mexiko, auf der Halbinsel Baja Californica. Es steht auf einem Felsen, der hinausragt in den Pazifik. An einem Ort so traumhaft, dass man es sich kaum vorstellen kann. Weiter nördlich in Kalifornien hätte das Grundstück mehrere Millionen Dollar gekostet. Bergmann zahlte damals 4000 Dollar. Das Haus hat er mit seinen eigenen Händen gebaut.

ANDREA BITTELMEYER