Neuer Blick aufs alte Leben
Um sich besser kennenzulernen, braucht man ein bisschen Abstand. Psychologen empfehlen deshalb: Einfach raus und reisen! Und bitte nicht am Ballermann stoppen.
Wenn das Leben am Bürofenster vorbei zu ziehen scheint, wenn wir nur noch funktionieren und uns langsam selbst anöden: Dann ist es Zeit für einen Tapetenwechsel. Das gilt erst recht zum Jahresbeginn, wenn die Zeichen auf Umbruch und Veränderung stehen. Auf Reisen suchen wir meist nach dem, was uns im Alltag fehlt. Vielleicht ist es die Sehnsucht, wieder Französisch zu sprechen und damit dem Leben mehr Flair zu verleihen. Vielleicht ist es die Lust auf Bewegung, der wir zu Hause zu wenig Platz einräumen. Oder der Hunger nach Weite, wenn wir uns eingesperrt fühlen in unseren drei Zimmern, Küche, Bad. Womöglich stehen wir dann am Meer und erkennen, dass es nicht die Wohnung, sondern der Mann an unserer Seite ist, der uns die Luft zum Atmen nimmt. Was auch immer in uns brodelt und dringend raus will: Eine Trip in die Fremde kann es zu Tage bringen. Alles ist möglich, wenn wir aus dem Gewohnten ausbrechen und unser Leben mit etwas Abstand betrachten.
„Reisen kann der Standortbestimmung dienen und sogar lebensverändernd sein“, sagt Martina Zschocke, Professorin für Freizeitsoziologie und Freizeitpsychologie an der Hochschule Zittau/Görlitz. „Ein Aufenthalt im Ausland wird fast immer von einem Gefühl der Befreiung begleitet. Dies führt zu ungewöhnlichem und kreativem Handeln, dem Mut, Dinge zu tun, die man im eigenen Land nicht getan hätte.“ Sprich: Wenn wir wollen, können wir in anderen Ländern ganz neue Facetten von uns ausleben. In Erlangen haben wir noch Angst vor Referaten, in England singen wir im Pub Karaoke. In Italien flirten wir so ungehemmt, wie wir es in Ingolstadt nie taten. Und obwohl wir uns in Fulda noch wie eine graue Maus fühlten, tanzen wir in Frankreich plötzlich mit einem Fremden auf der Straße.
Der positive Effekt von Reisen auf die Persönlichkeit ist auch durch Studien belegt: Jenaer Psychologen konnten nachweisen, dass Studenten, die eine gewisse Zeit im Ausland gelebt haben, in ihrer Persönlichkeitsentwicklung stark davon profitierten. Sie wurden nicht nur offener, sondern auch emotional stabiler. Eine andere Untersuchung zeigt einen klaren Zusammenhang zwischen Auslandsaufenthalten und Kreativität. So hat ein Forscherteam aus Frankreich und den USA festgestellt, dass Testpersonen, die längere Zeit in einem anderen Land studiert oder gearbeitet hatten, eher imstande waren, eine kreative Denkaufgabe zu lösen als andere. Die Konfrontation mit der Fremde, die neuen Eindrücke, die andere Sprache, all das wirbelt uns so durcheinander, dass sich flexiblere Denkstrukturen entwickeln.
Das funktioniert natürlich nur, wenn wir uns wirklich auf Land und Leute einlassen. Wer sich am Ballermann einmietet und vom Kontinentalfrühstück bis zum letzten Drink an der Bar nur mit den eigenen Landsleuten umgibt, der wird wohl wenig Gewinn daraus ziehen. Erst recht nicht, wenn er die Reise nur durch die Foto-App des Handys erlebt. Denn damit verschenken wir eine einzigartige Chance. „Reisen schärft die Sinne“, schreibt Martina Zschocke in ihrem Buch „Mobilität in der Postmoderne“. „Im modernen Alltag verbringt der Mensch oft viel Zeit an Schreibtischen und Computern und ist nur mehr Gehirn und Nerven. Beim Reisen tritt Sinnliches in den Vordergrund: am See entlang spazieren, durch fremde Gegenden laufen – riechen, hören, sehen – Menschen beobachten, Wetter und Klima fühlen, die Wahrnehmung verschiedener umgebungsrelevanter Details, statt des überreizten Alltags.“
Auf Reisen haben wir die Chance, ganz in der Gegenwart zu sein, anders als im täglichen Einerlei, wo wir in Gedanken meist schon zehn Schritte voraus sind und den Moment oft gar nicht bewusst erleben. So kann der Trip sogar zum Selbstcoaching werden, schreibt Katrin Zita, Coach und Buchautorin („Die Kunst allein zu reisen und bei sich selbst anzukommen“). Aus ihrer Sicht sind Reisen eine echte Alternative zu Therapiesitzungen und Wochenendworkshops. Erst recht, wenn wir uns alleine auf den Weg machen. Denn wer 24 Stunden täglich mit sich selbst unterwegs ist, fragt sich automatisch irgendwann: Wie bin ich? Was will ich eigentlich? Was macht mir Spaß? Zita unternahm ihre erste Reise allein in ein Wellnesshotel. Damals war sie total überarbeitet, suchte Ruhe und wollte vor allem sich selbst wieder spüren. Nach sieben Tagen ausschlafen und Wanderungen in der Natur spürte sie ganz neue Impulse: Unter anderem wollte sie sehr viel mehr als bisher nach ihrem eigenen Biorhythmus leben – und konnte das später als Selbstständige auch umsetzen. Zita: „Hätte ich damals nicht in diesem Kurhotel am schönen Wörthersee gesessen, allein und in Ruhe mit mir, wäre diese Änderung meines Lebenskompasses nicht erfolgt.“ Oftmals, so sagt sie, erfolge diese Neuausrichtung unbewusst. Erst im Rückblick würden sich die Zusammenhänge zeigen – in einer Klarheit, die einen selbst überrascht.
Natürlich gilt das nicht nur fürs Alleinreisen. Auch der Trip mit einer alten Studienkollegin kann uns weiterbringen oder die Reise mit dem Ehemann, die der Partnerschaft einen neuen Kick gibt. Das Beste ist: All die Wandlungen, die wir auf Reisen erleben, sind mit der Rückkehr in die Heimat nicht einfach vorbei. Der Effekt ist nachhaltig: Denn die neuen Anteile unserer Identität, die wir auf Reisen erworben haben, werden von uns in eine Art „Patchwork-Identität“ integriert, sagt Martina Zschocke. Wir kommen also ein Stück weit „neu“ aus der Fremde zurück. Das gilt insbesondere für längere Aufenthalte im Ausland, aber nicht nur. Vielleicht können wir nach dem Surfurlaub in Portugal den Sport, der wieder Aufregung ins Leben gebracht hat, auch in der heimischen Nordsee weiterverfolgen. Oder wir haben auf der Trekking-Tour nach Nepal so viel Selbstvertrauen gewonnen, dass wir es jetzt in allen Lebenslagen genießen können. Auch die geschärfte Wahrnehmung halte oft noch über die Reise hinweg an, sagt Martina Zschocke. „Bei der Rückkehr nach Hause fallen plötzlich Details auf, die sonst übersehen werden. Der Blick auf das Altvertraute bekommt etwas von Entdecken.“ Wir lernen wieder zu staunen.
Wenn es sich also bemerkbar macht, dieses Kribbeln, diese unbestimmte Sehnsucht wenn wir ein Flugzeug davonfliegen sehen, den Reisegeschichten einer Freundin lauschen oder in einem exotischen Bildband blättern – dann könnte der richtige Zeitpunkt sein, uns davonzumachen, um unsere eigenen Abenteuer zu erleben.
Ulrike Schäfer und Andrea Bittelmeyer