New Work bei Siemens: Die agile Keimzelle

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In einem Gasturbinenwerk des Siemens-Konzerns fand vor fünf Jahren eine Revolution statt: Zwei Fertigungsplaner mochten nicht länger mitansehen, wie die Produktion wichtiger Bauteile ausgelagert wurde und Arbeitsplätze in Gefahr gerieten. Sie wollten ihr Werk wieder konkurrenzfähig machen und wagten dafür einen Musterbruch nach dem anderen. Das Ergebnis war ein Vorzeigeprojekt für New Work, das heute als Leuchtturm weit in den Konzern strahlt.

„Hast Du schon von den Jungs in der Huttenstraße gehört?“ Diese Frage ließ Sabine Kluge, damals bei Siemens im Bereich Corporate Learning tätig, hellhörig werden. Sie hielt gerade Ausschau nach konkreten Beispielen, wie innerhalb des Konzerns die Arbeit neu organisiert werden konnte: „Ich wollte wissen, wo die echten Menschen sind, die Muster brechen und New Work – also mehr Eigenverantwortung, Agilität und Selbstorganisation – in die Praxis umsetzen“, erzählt sie. Was Kluge dann von den beiden „Jungs“ aus dem Siemens-Gasturbinenwerk in der Berliner Huttenstraße – den Fertigungsingenieuren Ronny Grossjohann und Robert Harms – zu hören bekam, faszinierte sie. Es war der Stoff, aus dem Pionier-Geschichten gemacht sind. ​

Denn die Mitarbeitenden im Fertigungswerk hatten es fertiggebracht, binnen kürzester Zeit ihre alten Strukturen aufzubrechen und sich vollkommen neu aufzustellen: als selbstbestimmt agierende Teams, die Millionen-Budgets eigenständig verwalten. Sie wurden für Siemens – auch weil Kluge schon bald in einem Blogbeitrag über sie schrieb – zum leuchtenden Vorbild. Und vor allem wurden sie zu Kronzeugen dafür, was auch unter dem Dach eines Konzerns mit seinen gewachsenen Strukturen in Sachen New Work möglich ist. Und zwar ohne, dass sie selbst je mit diesem Begriff, geschweige denn mit Agilisierungskonzepten und Co., zu tun gehabt hätten.

Der erste Musterbruch: Insourcing statt Outsourcing

Sie trieben damals, vor fünf Jahren, ganz andere Sorgen um. So erlebte Ronny Grossjohann, der vor 16 Jahren als Auszubildender in das Werk gekommen war, – mittlerweile als Fertigungsplaner und Projektleiter – seit einigen Jahren, wie die Fabrik unter immer stärkerem Wettbewerbsdruck geriet. Wie es mehr und mehr darum ging, Kosten zu reduzieren, zu automatisieren und die Produktion in Billiglohnländer auszulagern – eine Entwicklung, die die gesamte Branche betraf und immer wieder auch das Thema Stellenabbau auf den Plan rief. Betroffen von der Auslagerung der Produktion waren auch die Brenner, eine entscheidende Kernkomponente für die Leistung der riesigen Siemens-Turbinen, die in aller Welt zum Einsatz kommen: Obwohl sich die Entwicklungs- und Testabteilung für die Brenner in Berlin befand, kaufte Siemens damals fast 90 Prozent dieser wichtigen Bauteile extern ein.

Doch gerade bei den Brennern sahen die beiden Fertigungsplaner Grossjohann und Harms ihre große Chance. Plötzlich stand die Idee im Raum: „Eigentlich sind wir doch Brennerbauspezialisten. Lasst uns dieses Produkt zurückholen.“ Grossjohann, Harms und drei weitere engagierte Mitstreiter wollten beweisen, dass die Brenner sehr wohl vor Ort gefertigt werden können – und dass das sogar günstiger war, als die Brenner bei den bisherigen Lieferanten zu beziehen. Insourcing statt Outsourcing. Wieder grundsätzlich mehr Turbinenteile in Berlin produzieren – das war ihr großes Ziel. Weil dieses Ziel der bisherigen Strategie komplett entgegengesetzt war, könnte man auch sagen: Es war ihr erster mutiger Musterbruch.

Vom Vorstand gab es ein Budget von 12 Millionen Euro

Die fünf Ideengeber hatten jedoch nicht nur Mut. Sie hatten auch Glück mit ihrem damaligen Standortleiter. Als sie diesem ihren Plan präsentierten, sprang der Funke der Begeisterung gleich über. Der Standortleiter sprang auf und adelte das Vorhaben mit den Worten: „Jungs, krasses Projekt!“ Im Folgenden durfte das Fünferteam, in dem vom Ingenieur bis zum Finanzmanager verschiedene Funktionen vertreten waren, wie ein kleines Startup innerhalb der klassischen Strukturen agieren. Sein erstes Arbeitsergebnis konnte sich sehen lassen: „Wir haben eine schöne Fertigungslinie konzipiert, topmodern und modular“, so Robert Harms.

Diese Fertigungslinie präsentierte das Team vor dem Management. Auch hier rannte es offene Türen ein. Das Management verstand sich als möglichen Investor – und erteilte den Zuschlag. Das bedeutete ein stattliches Budget von zwölf Millionen Euro, und die Anweisung: „Baut eine neue Fertigungslinie – in einer eigenen Halle auf 4.000 Quadratmetern mit Arbeitsplätzen für 100 Leute.“ In den ersten drei Monaten schloss sich das Fünferteam daraufhin in einen kleinen Raum ein und plante das Projekt. Aus eigener Erfahrung und Büchern zum Projektmanagement wussten die Beteiligten, wie das geht: Man muss eine Projekthierarchie aufbauen, Netzpläne und Gantt-Charts erstellen, Reportingstrukturen festlegen, Lenkungskreise etablieren und schließlich jedes einzelne Arbeitspaket durchdefinieren. „Am Ende hatten wir 2.000 Arbeitspakete in eine zeitliche Abfolge gebracht“, erzählt Grossjohann.

Der zweite Musterbruch: Die Mitarbeiter durften radikal selbst entscheiden

In den folgenden drei Monaten hielten diese Arbeitspakete 60 Mitarbeiter auf Trab. Alle waren ständig in Besprechungen, saßen an großen Tischen. Gleichzeitig rollte die erste große Krise heran, die das Projekt über den ersten Musterbruch hinaus so besonders machen sollte. „Wir haben bei den Mitarbeitern kein Leuchten in den Augen gesehen, das war einfach nicht da“, erinnert sich Grossjohann. Stattdessen endete jede Besprechung in endlosen Diskussionen darüber, dass jemand seine Aufgaben nicht erledigen konnte, weil ein anderer noch nicht fertig war. Dass dieses oder jenes nicht ging, weil ein anderer noch nicht geliefert hatte. „Alles lief träge. Als Leitungsteam haben wir uns schon vor dem nächsten Statusmeeting gefürchtet. Irgendwann konnten wir nicht mehr schlafen“, so der Fabrikplaner. Stattdessen diskutierte der Leitungskreis viele Nächte lang: Warum fühlt sich das alles so unglaublich schlecht an?

Schließlich stellten sich die beiden Projektleiter die entscheidenden Fragen: Was hat uns bei der Konzeption der neuen Fertigungslinie vor ein paar Monaten so erfolgreich gemacht? Warum waren wir so gut drauf? Warum war der damalige Standortleiter gleich begeistert von dem Projekt? Dann kam ihnen die Erkenntnis: Sie waren Teilhaber. Es war ihr Projekt, das für sie Sinn machte. Bei den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen hingegen existierte der Gedanke „Wir bauen diese Fabrik für uns“ nicht, der sie als Initiatoren so beflügelt hatte.

Heute kennen Harms und Grossjohann die Grundmechanismen. Die beiden sind mittlerweile als Organisationsentwickler tätig. Sie haben das gesamte Werk in der Huttenstraße, weitere Siemens-Fabriken und -Verwaltungsbereiche, aber auch andere Unternehmen bei der Einführung von Selbstorganisation unterstützt. Und daraus haben sie gelernt: Wenn Menschen Arbeitspakte abarbeiten, die ein anderer definiert hat, dann arbeiten sie nicht für eine Sache, sie arbeiten für ihr Arbeitspaket. Anerkennung gewinnen sie darüber, dass sie ihre Arbeit rechtzeitig erledigen. Sie werden aber nicht durch den Gesamtsinn und -zweck motiviert. Jeder schaut nur auf seine begrenzte Aufgabe. Daher funktioniert die Zusammenarbeit nicht.

Damals hatten Grossjohann und Harms derartige Zusammenhänge nicht in Gänze bewusst. Das Thema New-Work war für sie bis zu diesem Zeitpunkt unbekannt. Dennoch waren sie sehr radikal. Grossjohann: „Mitten in einem Statusmeeting, in dem wieder einmal 60 Leute diskutiert haben, warum dieses und jenes nicht geht, sind wir aufgestanden und haben das Projekt für gescheitert erklärt.“ Was allerdings nicht bedeutete, dass sie aufgeben wollten. Vielmehr wollten sie auf das auf klassische Weise erstelle Regelwerk verzichten und nun auch bei der Arbeitsaufteilung vollkommen anders als gewohnt verfahren. Das war ihr zweiter Musterbruch.

Zunächst fragten sie im Werk herum, wer Lust hätte, diesen neuen Fabrikteil mit ihnen zu bauen – ein Vorgehen, das aufgrund der Restrukturierungsprozesse innerhalb des Werkes möglich war. Und es meldeten sich eine Reihe Mitarbeitende, vom Schweißer bis zum Ingenieur, vom Meister bis zum Manager. Die einen waren erst seit kurzem bei Siemens, andere schon sehr lange. Immer noch, ohne von New Work zu wissen, machten Grossjohann und Harms ihnen im zweiten Anlauf kaum Vorgaben. „Baut eure eigene Fabrik“ nannten sie einen der ersten Workshops, zu dem sie eingeladen hatten. In diesem erklärten sie lediglich: „Ziel ist eine neue und konkurrenzfähige Brennerfertigung – und das ist unser Budget.“

Auch im weiteren Verlauf ging es nicht mehr darum, den Teams vorzuschreiben, was sie tun sollten, sondern darum, ihnen möglichst große Freiräume zu eröffnen. „Durch unser modulares Fertigungssystem konnten wir clustern und kleine Teams bilden, die jeweils für einen bestimmten Teil des Brenners oder einen Fertigungsschritt verantwortlich waren“, erklärt Harms. So entstanden fünf Cluster – kleine Startups aus jeweils vier bis sechs Leuten –, die gemeinsam den Brenner produzieren sollten. Eines der Cluster war zum Beispiel für die Endmontage zuständig, es musste unter anderem die dafür benötigten Maschinen beschaffen.

Wurde Mitarbeitern die Selbstorganisation unheimlich, blieben die Ex-Chefs hart

Gegenüber diesen Startups verstanden sich Grossjohann und Harms jetzt selbst als Investoren und erklärten: „So sehen die Anforderungen an euer Produkt aus, alles andere könnt ihr selbst entscheiden. Wir geben euch 3,5 Millionen Euro, das ist die Investmentgröße für euer Team.“ Damit – so formulieren es die heutigen Organisationsentwickler – haben sie einen Raum aufgemacht, in dem die Mitarbeiter sich selbst verwirklichen und Entscheidungen treffen konnten. Genau diese Entscheidungsfreiheit führte zum durchschlagenden Erfolg, anfangs jedoch auch zu Schwierigkeiten.

Denn erst waren die Teams motiviert und hellauf begeistert von ihrer neuen Verantwortung. Als es aber darum ging, mehrere hunderttausend Euro zu investieren, wollten sie sich doch lieber rückversichern: Sie fragten bei Grossjohann und Harms nach, ob sie Maschine A oder lieber Maschine B kaufen sollten. Doch die beiden Musterbrecher blieben konsequent und nahmen ihnen die Entscheidung nicht ab. Stattdessen ermutigten sie die einzelnen Teams, Wirtschaftlichkeitsberechnungen und Machbarkeitsstudien durchzuführen, um selbst eine gute Entscheidung treffen zu können.

Heute wissen Grossjohann und Harms: Diese Phase, in der sich die Mitarbeitenden doch wieder an den Chefs ausrichten wollen, gilt es durchzuhalten, ohne rückfällig zu werden. Denn nur, wenn man sie übersteht, bekommt man tatsächlich selbstorganisierte Teams, die die Verantwortung für ihre Entscheidungen übernehmen. Und erst dann zeigen sich die Vorteile der neuen Organisationsform. Gleichzeitig werden auch die Schattenseiten der alten noch einmal besonders deutlich. So haben hierarchische Systeme einen riesigen Nachteil: Informationen müssen so lange nach oben weitergegeben werden, bis jemand die Entscheidung treffen kann. Das dauere viel zu lange. „Auch in der Produktion ändern sich die Rahmenbedingungen heute nahezu täglich“, erklärt er. Entscheidungen müssten viel schneller getroffen werden, neue Ideen und Erkenntnisse zügig umgesetzt werden. Agile Arbeitsweisen seien längst nicht nur in einem digitalen Umfeld sinnvoll.

Neue Arbeits- und Entscheidungsregeln dürfen nicht von oben verordnet werden

 Und noch ein zweiter Effekt wurde deutlich. „Lässt man die Teams selbst entscheiden, finden sie die besten Lösungen. Auf viele Ideen, die die Mitarbeiter hatten, wären wir selbst gar nicht gekommen“, sagt Harms. Da die neuen Teams keinen Chef bekommen haben, mussten sich jeweils fünf bis sechs Leute untereinander einigen, auf welche Art und Weise sie Entscheidungen treffen wollen. Und auch hier kamen sie jeweils zu ihren eigenen Lösungen. Das eine Team entschied sich für ein basisdemokratisches Modell, das andere für das Entscheiden im Konsent, eine zentrale Methode der agilen Organisationsform Soziokratie. „Einige Teams wählten auch je nach Tragweite der Entscheidung unterschiedliche Formate“, berichtet Grossjohann.

Bei der Entwicklung der Entscheidungswege brauchen Teams zwar Unterstützung, von außen vorgegeben werden dürfen sie jedoch nicht, meinen Grossjohann und Harms. Auch hier sprechen die beiden New-Work-Pioniere aus Erfahrung. Denn auch das hatten sie zunächst versucht, und bemerkt: Mit diesem Schritt zerfällt das selbstorganisierte System, weil die Mitarbeiter ihrer Teilhaberschaft wieder beraubt werden. Weil wieder ein Chef Anweisungen gibt und erklärt, wie die Zusammenarbeit zu funktionieren hat. Grossjohann: „Nur das Lösen der Fesseln funktioniert. Es macht keinen Sinn, neue anzulegen.“

Will man die Form der Zusammenarbeit in einem Unternehmen nachhaltig ändern, muss man laut Grossjohann und Harms daher zunächst an die Basis gehen und Fragen stellen: Was ist Sinn und Zweck unseres Projekts? Was wollen wir in Zukunft anders machen? Und: Wie wollen wir uns organisieren, damit dies funktioniert? In der Folge kommen die Mitarbeiter nach den Erfahrungen in der Huttenstraße zwar durchaus auf Modelle, die bekannten agilen Organisationsformen und Methoden wie Soziokratie, Holacracy oder Scrum ähneln, und es ist auch sinnvoll, sich an diesen zu orientieren. „Aber die Reihenfolge ist entscheidend: Erst muss sich das Mindset ändern“, betont Grossjohann.

 Die ehemaligen Führungskräfte erschlossen sich selbst neue Aufgaben

Als die Teams in der Brennerfertigung schließlich ihre eigenen Entscheidungen trafen und sich ihre Arbeit selbst einteilten, trat das nächste Problem auf: Nun beschwerten sich die Gruppenleiter, dass sie jetzt keine operativen Aufgaben mehr hätten. „Ihr sagt, ihr macht das Beste für die Fabrik, aber wir sind jetzt sozusagen arbeitslos. Schönen Dank!“, so deren Sichtweise. Wieder ein kritischer Moment, für den Grossjohann und Harms damals keine Lösung hatten. Doch getreu ihrer bisherigen Erfahrungen haben sie auch diese gemeinsam mit den Betroffenen gesucht: „Dann lasst uns doch mal schauen, was eure neuen Aufgaben sein können?“, schlugen sie vor.

Auch hier entstanden schnell neue Denkansätze: So waren die einzelnen Arbeitskreise in erster Linie mit sich selbst und ihrem aktuellen Fertigungsprozess beschäftigt. Jemand müsste aber auch verantwortlich dafür sein, dass neue Produkte entwickelt werden. Das könnten doch die ehemaligen Gruppenleiter machen. Ein Cluster für Produktinnovationen entstand. Oder, ein weiterer Ansatz: Um die sich selbstorganisierenden Systeme am Leben zu erhalten, braucht es eine Führungsrolle, die diese Plattform erhält. Andernfalls fallen alle früher oder später wieder in die alten Muster zurück. Den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen wird die Verantwortung doch wieder unheimlich, oder es gibt Teammitglieder, die streiten und alles wieder zerstören. So ist ein Führungscluster entstanden. Um ihre Rollen in diesen Clustern bestmöglich ausführen zu können, bezogen die Gruppenleiter einen gemeinsamen Raum in der Fertigungshalle. „Heute sind sie ganz begeistert von ihrem neuen Tätigkeitsfeld“, so Grossjohann.

Die Effizienz stieg, die Produktionskosten sanken

Während die neue Brennerfertigung zunächst wie eine Insel innerhalb einer hierarchisch geprägten Organisation wirkte, sprang mit der Zeit der Funke der Begeisterung auf die anderen Bereiche des Werks über. So wurden etwa auch in der Rotor- und in der Gehäusefertigung Stück für Stück Organisationsform und Arbeitsweise umgestellt. Heute beschließen in allen Werkshallen auf dem Gelände die Mitarbeiter gemeinsam, wie ihre Zukunft aussehen soll und auf welchem Weg sie diese erreichen wollen. Harms: „Die streng hierarchisch geprägte Entscheidung durch die Führungskraft ist nicht 100 Prozent verschwunden, aber zum großen Teil.“

Auch bei Jan-Marc Lischka, dem jetzigen Standortleiter, sitzen die Abteilungsleiter, die eine Ebene über den Gruppenleitern stehen, zusammen in einem Raum und erfüllen neue Rollen, die sie für sich selbst definiert haben. Denn auch sie müssen sich viel weniger als bisher um das operative Geschäft kümmern, und auch sie mussten sich die Frage stellen: „Was bedeutet unter diesen Voraussetzungen Führung?“.

Begünstigt hat die zügige Ausbreitung von New Work im Gasturbinenwerk Huttenstraße der wirtschaftliche Erfolg der neuen Brenner-Fertigungslinie: Die Fertigungszeiten sanken um 80 Prozent, die Produktionskosten um bis zu 50 Prozent. Ebenso plakativ wie erfolgreich war der Start der neuen Fertigungslinie, der im Frühjahr 2016 sechs Monate früher als zunächst geplant erfolgte. Grund war ein großer Auftrag, der zusätzlichen Schwung in das Vorhaben brachte: 24 Gasturbinen für drei Kraftwerke in Ägypten. „Plötzlich stand die Frage im Raum: Wollen wir den geplanten Zeitpunkt beibehalten, oder wollen wir die Brenner für Ägypten selbst bauen?“, erzählt Harms. Auf einen Schlag schnellte die Motivation noch einmal in die Höhe, die Prozesse konnten deutlich beschleunigt werden. Grossjohann: „Die Mannschaft wollte die Brenner selbst bauen, und wir haben es geschafft.“

Erfolgreich machte der Musterbruch am offenen Herzen

Diese schlagkräftigen Erfolge hat das Projekt vielen anderen New-Work-Projekten voraus, die mittlerweile auch an rund 20 weiteren Standorten im Konzern entstanden sind. Im Werk Huttenstraße hat der Musterbruch am offenen Herzen funktioniert – in der echten Produktion, der laufenden Wertschöpfung. Dies würden sich bislang die wenigsten trauen, berichten Grossjohann und Harms. Die Vorgehensweise habe aber einen entscheidenden Vorteil. Denn hat man es auf diese radikale Weise geschafft, dann hat man – mit den Worten von Harms – „die DNA des Wandels schon miteingebaut“. Man wisse, an welcher Stelle man wie agieren müsse, um die Transformation trotz auftauchender Hindernisse weiterzutreiben. Das sei ein gravierender Unterschied zu Innovation Labs oder Startup Hubs, in denen das selbstverantwortete Arbeiten zunächst oftmals gut funktioniert, dann aber wieder gebremst wird, wenn es auf die alten Strukturen trifft.

​Damit sich New Work und Eigeninitiative bestmöglich im gesamten Unternehmen ausbreiten können, sollten laut Harms und Grossjohann die entsprechenden Projekte gut miteinander vernetzt werden, so dass sich die Initiatoren regelmäßig austauschen können und gemeinsam immer mutiger werden. Unterstützt wird dies bei Siemens durch Veranstaltungen wie das Augenhöhe-Camp, zu dem sich im Werk Huttenstraße Anfang März über 300 Gleichgesinnte versammelt, sich gegenseitig ihre Konzepte vorgestellt und darüber diskutiert haben. Sie kamen zur Hälfte aus dem Konzern und zur Hälfte von außen. „Es ist tatsächlich so, dass das ansteckt. Dass die Leute losmarschieren, wenn sie von unserem Projekt gehört haben“, wissen Grossjohann und Harms.

„Der Erfolg in der Huttenstraße hat für viele andere bei Siemens den Weg bereitet. Sie verstecken sich nicht länger und sagen: ‚Bei uns geht so etwas nicht‘“, ist auch die engagierte Projektförderin und ehemalige Personalmanagerin Sabine Kluge überzeugt. Weil sie den positiven Effekt erahnte, veröffentlichte sie ihren Blogbeitrag damals so rasch wie möglich: „Mir war das wichtig, damit möglichst viele Leute mitbekommen, dass solche neuen Formen der Zusammenarbeit möglich sind – auch in einem Industrieunternehmen“, erklärt Kluge, die sich mittlerweile selbstständig gemacht hat und sich mit einem eigenen Netzwerk für New Work engagiert. Kluges Blogbeitrag schlug bei vielen Führungskräften wohl auch deswegen ein, weil er zur richtigen Zeit kam.

Was ihm und seinen Mitstreitern damals den Mut für ihr ambitioniertes Projekt gegeben habe? „Die Überzeugung, das Richtige zu tun. Und die Angst davor, auf den alten Wegen zu scheitern“, sagt Grossjohann. Seiner Ansicht nach liegt hier auch der Grund dafür, dass Führungskräfte die Bewegung hin zu Eigeninitiative der Mitarbeiter und neuen Leadership-Modellen insgesamt immer stärker unterstützen. „Sie bemerken: Wir stecken fest, wir sind nicht effizient genug, wir müssen andere Wege finden. Andere sind scheinbar erfolgreicher als wir“, so Grossjohann. „Dadurch lässt das Management immer mehr zu. Und auf der anderen Seite haben die Mitarbeiter Erfolg und werden immer mutiger. Das ist ein sich selbst verstärkendes System.“

 

Tutorial

New-Work-Lektionen von Pionieren

 Dem gesunden Menschenverstand folgend haben Ronny Grossjohann und Robert Harms als Fertigungsplaner bei Siemens ein Vorzeigeprojekt für New Work erschaffen – zunächst ohne die entsprechenden Theorien und Regelwerke zu kennen. Aus den Erfahrungen, die die beiden dabei gemacht haben, leiten sie heute als Organisationsentwickler Empfehlungen ab.

Die Fesseln vollständig lösen

Geht es um die Einführung von New Work, besteht die oberste Prämisse darin, zuzulassen. Der Kerngedanke ist, den Mitarbeitern Gestaltungsspielräume zu eröffnen und ihnen Verantwortung zu übertragen – auch für weitreichende und erfolgskritische Entscheidungen.

Das Pull-Prinzip strikt einhalten

Damit sich die Kraft der Selbstorganisation entfalten kann, dürfen neue Projekte und Arbeitsweisen nicht von oben verordnet werden. Teams oder Unternehmensbereiche, die von sich aus nach innovativen Wegen und Arbeitsformen suchen, sollten darin bestärkt werden.

Am Sinn und Zweck ausrichten

Damit ein Projekt die nötige Schlagkraft entfalten kann, müssen sich die Mitarbeiter an dessen Sinn und Zweck ausrichten. Nicht an Vorgaben, die von oben gemacht werden. Im ersten Schritt gilt es also, gemeinsam übergeordnete Ziele zu definieren.

 Keine Entscheidungswege vorgeben

Wer den Teams vorgibt, nach welchen Regeln sie arbeiten sollen, konterkariert den Grundgedanken von New Work. Die Teams sollten sich die Prinzipien, nach denen sie zum Beispiel Entscheidungen treffen wollen, selbst erarbeiten. Die Orientierung an agilen Konzepten wie Holacracy, Soziokratie oder Scrum ist dabei sinnvoll.

Führung neu definieren

Wird die Verantwortung für die operativen Entscheidungen den Mitarbeitenden übergeben, ändert sich im nächsten Schritt das Verständnis von Führung: Da die Führungskräfte nun nicht mehr konkrete Kundenprojekte oder Produktionsabläufe steuern, können sie sich um strategische Fragestellungen kümmern, aber auch um den Erhalt des sich selbst organisierenden Systems.

Phasen der Unsicherheit überstehen

Werden die gewohnten Muster von Anweisung und Kontrolle durchbrochen, entstehen Unsicherheiten bei den Mitarbeitern. Schließlich sind sie es nicht gewohnt, Entscheidungen großer Tragweite zu treffen. In diesen Phasen gilt es, die Mitarbeiter zu unterstützen, ihnen aber keinesfalls die Entscheidung abzunehmen.

Operation am offenen Herzen wagen

In Innovation Labs und Startup Hubs scheinen neue Arbeitsformen zunächst schneller zum Erfolg zu führen. Das Problem: Treffen diese an den Schnittstellen wieder auf die alten Zwänge, sind Konflikte programmiert. Oftmals scheitern Transformationsprojekte an dieser Schwelle.

Unterstützung bieten

Den Mitarbeitern Freiräume zu geben, bedeutet nicht, sie mit den neuen Herausforderungen allein zu lassen. Viel mehr brauchen sie immer wieder Unterstützung, etwa durch Organisationsentwickler und Coachs.

 New Work-Pioniere im Unternehmen vernetzen

Damit die Kraft vorbildlicher Projekte in das gesamte Unternehmen ausstrahlen kann, ist es sinnvoll, die New-Work-Pioniere im Unternehmen zu vernetzen. Auf diese Weise springt der Funke über, immer mehr Mitarbeiter finden den Mut, eigene Projekte zu starten.