Otto wird 4.0

Kulturwandel im Konzern: Otto wird 4.0

Im Geschäftsjahr 2014/15 hat die Otto Group erstmals in ihrer Geschichte als Holding ein Minus eingefahren. Bei der Aufarbeitung des Verlustes kam die erschreckende Erkenntnis: Mit unserer heutigen Kultur können wir in der digitalisierten Wirtschaftswelt nicht überleben. Ein Kulturwandel wurde initiiert, der den Konzern mehr und mehr umkrempelt.

Geschäftsführer und Vorstände der einzelnen Gesellschaften der Otto-Group stehen auf der Bühne und berichteten von großen Projekten, die sie mangels Erfolg stoppen mussten. Sie schildern, wie schwierig es war, sich selbst und anderen das Scheitern einzugestehen. Wie weh es getan hat, ein Vorhaben einzustampfen, für das sie monatelang vollen Herzens gekämpft haben. Und wie viel Mut es gekostet hat, diesen Schritt zu gehen. Es ist bereits die zweite Fuck-up-Night, die in der Hamburger Konzernzentrale stattfindet.

Dass bei der Otto Group, einem der weltweit größten E-Commerce-Unternehmen, bis in die obersten Etagen hinauf so offensiv über schmerzliche Niederlagen gesprochen wird, hat keinen sadomasochistischen Hintergrund, sondern verfolgt einen spezifischen Zweck: Es geht um die Enttabuisierung von Fehlern, erklärt Tobias Krüger, Organisationsentwickler bei der Otto Group: „In einer zunehmend digitalisierten Welt werden wir zwangsläufig mehr Fehler machen. Wir müssen Entscheidungen schneller und unter immer unsichereren Bedingungen treffen. Also werden wir auch öfter daneben liegen.“ Die Devise für die Zukunft müsse daher lauten: Die Person, die etwas entschieden hat, hat dies aus bestem Wissen und Gewissen getan. Stellt sich später heraus, dass ein anderer Weg besser gewesen wäre, dann ist das aus der neuen Logik heraus nicht schlimm. „Wichtig ist es, Dinge, die schlecht laufen, klar anzusprechen und daraus zu lernen“, so Krüger.

Dafür zu sorgen, dass sich diese Art neuen Denkens im Unternehmen verbreitet, ist Krügers Job. Er leitet einen kleinen Unternehmensbereich – mit ihm zusammen zählt dieser gerade einmal sieben Personen –, der eine große Aufgabe verfolgt: den Kulturwandel im gesamten Konzern voranzutreiben. Neben einer neuen Fehlerkultur gehören zu den Zielmarken dieses Prozesses: mehr Selbstverantwortung der einzelnen Mitarbeiter und ein konstruktives Miteinander auf Augenhöhe, mehr Offenheit und die Abschaffung von Herrschaftswissen, mehr Mut und die Akzeptanz eines kontrollierten Kontrollverlustes. All das betrachtet der Konzern als Voraussetzungen dafür, um – wie Krüger bildhaft erklärt – seinen Weg durch das unbekannte und im dichten Nebel liegenden Gebirge der Digitalisierung finden zu können. Eine „Organisation 4.0“ will man werden, eine, die beherzt losmarschiert und schnell und flexibel auf das Unvorhersehbare reagiert – weshalb der Wandlungsprozess bei Otto als Kulturwandel 4.0 bezeichnet wird.

Die Zeiten der Planbarkeit sind vorbei

Die zunehmende Unvorhersehbarkeit, mit der der Konzern zurechtkommen muss, verdeutlicht Krüger am Produktabsatz. Früher gab es den bekannten Otto-Katalog, der gedruckt und zunächst an Testkäufer verschickt wurde. Anhand ihrer Bestellungen ließ sich gut einschätzen, wie oft ein Artikel verkauft werden wird. Die entsprechende Anzahl wurde bestellt, nach Monaten geliefert und schließlich an die Kunden verkauft. Heute agiert der Konzern, der Konkurrenten wie Neckermann und Quelle hinter sich gelassen hat, in einem viel schnelleren Marktumfeld. Krüger: „Ein Produkt ist drei Wochen lang heiß, und wenn man es in dieser Zeit nicht verkauft, verdient man auch nichts damit. Wir können nicht wie früher in aller Ruhe planen, testen und steuern.“

Daran, dass es die Otto Group mit dem Kulturwandel ernst meint, lässt Krüger keinen Zweifel. Einstimmig würden die Familie Otto ebenso wie der Vorstand gegenüber den Mitarbeitern immer wieder und unmissverständlich erklären: Wenn wir den Kulturwandel nicht schaffen, drohen wir abgehängt zu werden. Nicht zuletzt weil Otto in der Lage sein müsse, schnell und innovativ auf digitale Entwicklungen im Onlinehandel – die nächste richtig große ist nach Ottos Erwartung übrigens Einkaufen per Sprachsteuerung – zu reagieren, oder besser noch diese zu prägen.

Einen deutlichen Warnschuss, der die Entscheidung der Unternehmensführung für den Kulturwandel erheblich beschleunigt hat, lieferte das Geschäftsjahr 2014/15. In diesem wies die Otto Group zum ersten Mal in ihrer Geschichte als Holding ein Minus aus, das knapp 200 Millionen Euro betrug. Im Rahmen einer gründlichen Aufarbeitung des Verlusts stellte das Board fest: Wenn wir ganz ehrlich sind, schöpfen wir die Synergien innerhalb der Gruppe nicht aus. Und wir schaffen es nicht, das Potenzial unserer knapp 50.000 Mitarbeiter vollends zu entfalten.

Ein Masterplan macht keinen Sinn

Die neue Kultur zu etablieren ist nicht nur aufgrund der hohen Mitarbeiterzahl eine immense Herausforderung: Die Otto Group besteht aus 123 Gesellschaften, die auf vier Kontinenten agieren. Die Bandbreite reicht von der klassischen Logistikfirma wie dem Paketdienst Hermes über Finanzdienstleister wie EOS bis zu hippen jungen Modeunternehmen wie About You. Diese Gesellschaften haben nicht nur völlig unterschiedliche Geschäftsmodelle, sondern weisen auch völlig unterschiedliche Reifegrade in der Unternehmenskultur auf. Erschwerend kommt hinzu: Anders als Startups können sich die Firmen im Verbund nicht einfach fragen: Wie wollen wir uns aufstellen und welche Leute passen zu uns? Krüger: „Bei uns geht es darum, gewachsene Strukturen und Belegschaften zu transformieren.“

Allein aufgrund der Diversität der Unternehmensgruppe wurde schnell klar, dass der Wandlungsprozess nicht einem großen Plan, einem universellen Masterplan folgen kann. Zwar hatten mehrere große Unternehmensberatungen im Haus vorgesprochen und solche in Form ausgeklügelter Programme präsentiert. Doch wirklich überzeugen konnte keiner. Mehr und mehr verfestigte sich stattdessen die Haltung: Wir müssen unseren eigenen Weg finden, und der muss einer des Wandels aus sich selbst heraus sein. „Wenn die Mitarbeiter von Otto für alles 120-prozentige Lösungen suchen und dieser Anspruch sie heute nicht mehr weiterbringt, dann können sie das nur selbst ändern“, verdeutlicht Krüger als Verantwortlicher für den Kulturwandel.

Im Oktober 2016 wurde Krügers Team, der Bereich Kulturwandel 4.0, offiziell damit beauftragt, diesen Weg zu gestalten. Die erste große Maßnahme diente der Schaffung des Fundaments. Dazu animierte das Team die einzelnen Unternehmen der Gruppe, lokale Teams für den Wandel zu bilden. Deren Aufgabe: herausfinden, wo genau in ihrer Organisation der größte Handlungsbedarf besteht. Gleichzeitig sorgten Krüger und Co. dafür, dass innerhalb der Holding zahlreiche Thinktanks und Kompetenzcenter entstehen, die die lokalen Teams bei der Lösung ihrer Probleme mit Know-how und entsprechenden Tools unterstützen können.

Neue Räume müssen her – im zweifachen Sinne

Wichtig war es Krüger, dass der Kulturwandel schnell zur Basis vordringt: „Gerade in den kleinsten Einheiten wissen die Mitarbeiter sehr genau, was gut läuft, was nicht gut läuft und woran das liegt – am Prozess selbst oder an bestimmten Einstellungen und Verhaltensweisen.“ Bislang sei über solche Dinge jedoch viel zu wenig gesprochen worden, weil es dafür keinen Raum gab. Zum einen fehlte der im physischen Sinne, weshalb Otto gerade die gesamte Firmenzentrale in Hamburg in einen modernen Campus mit Großraumbüros, Kommunikationsecken und Besprechungsräumen umbaut. Zum anderen fehlte Raum im Sinne von Dialogformen, die dazu ermutigen, Dinge, über die man sich sonst nicht traut zu reden, beim Namen zu nennen.

Einen solchen Raum kann eine Retrospektive im Team bieten – ein aus dem agilen Methodenkoffer stammendes regelmäßiges Treffen, bei dem gemeinsam analysiert wird: Was ist in der Vergangenheit gut gelaufen und was nicht? Wo haben wir Probleme? Dann überlegt sich das Team eine Lösung zu einem der ausgemachten Probleme, setzt diese um und schaut 14 Tage später, ob die Lösung funktioniert. Lautet die Antwort Ja, wird das nächste Problem angegangen. Lautet sie Nein, sucht das Team nach einer anderen Lösung und prüft diese ebenfalls nach zwei Wochen. „Wird diese Vorgehensweise konsequent durchgehalten, verbessert sich die Performance sehr schnell“, erklärt Kristine Kiwitt, Agile Coach im Agile Center, einem der neuen Kompetenzcenter.

Agiles Arbeiten anbieten – nicht aufdrängen

Unter anderem indem sie Einheiten im Otto-Konzern dabei unterstützen, Methoden wie die Retrospektive einzuführen, fördern Kiwitt und ihr Team das agile Arbeiten im Unternehmen. Dabei gehen sie – denn anders kann es ihrer Meinung nach nicht funktionieren – nach dem Pull-Prinzip vor, warten also, bis ein Team auf sie zukommt, statt selbst zu den Teams zu gehen. Offensiv betonen die Mitarbeiter des Agile Centers dagegen, dass sie ihr Angebot nicht nur an IT-nahe Bereiche richten, denn tatsächlich kursiert diese Vorstellung im Unternehmen.

Genau deshalb nutzt Kiwitt auch eine IT-unabhängige Metapher, wenn sie die Grundlogik des agilen Arbeitens erklärt, der das Kompetenzcenter folgt: das Bild von der Zukunft als dunklem Raum, das sie von dem Managementberater Dominik Veken übernommen hat. Es symbolisiert, dass heute niemand genau weiß, wie die anstehenden Herausforderungen zu bewältigen sind und dass bisherige Erfahrungen, Prognosen und Expertentum dabei nicht weiterhelfen. „Und so steht jedes Team früher oder später vor einem dunklen Raum, niemand möchte den Schritt ins Ungewisse wagen“, so Kiwitt.

Dieses Bild ruft bei vielen Mitarbeitern ein Schmunzeln hervor, sagt Kiwitt, denn es kommt ihnen nur allzu bekannt vor. „Gerade in so großen Unternehmensgruppen wie der unseren stehen Mitarbeiter häufig vor dunklen Räumen und sagen: Da müsste man jetzt mal rein.“ Oder konkreter: Das mit der Digitalisierung müssten wir dringend angehen. Dann komme jedoch in der Regel schnell die Frage auf: Was brauchen wir denn dazu? Gefolgt von Antworten wie: Wir müssten erst einmal ein Training machen und Bücher lesen. Und dann falle ihnen ein, dass man noch Experten braucht, die unterstützen, und natürlich die geeigneten IT-Systeme. Und während die Mitarbeiter vor dem Raum stehen und Pläne schmieden, kommen immer mehr Kollegen mit immer neuen Einwänden dazu, erzählt Kiwitt die „immer gleiche Geschichte“. Also werden monatelang potenzielle Probleme durchgekaut und bis ins Detail geplant. „Und wenn man dann endlich in den Raum hineingeht, und es geht gleich zu Beginn etwas schief, will das garantiert niemand hören. Es wurde ja schon so viel investiert.“

Sich in die dunklen Räume hineintasten

Kiwitt zeigt den Teams auf, dass ein agiler Ansatz, mit dem man sich in kleinen Schritten in den dunklen Raum hineintastet, in der Regel weit besser funktioniert. Dabei zeigt sich der Unterschied zur bisherigen Vorgehensweise bereits in der Aufgabenstellung. So nimmt sich ein Team nicht von vornherein das Mammutvorhaben vor, die Prozesse im gesamten Konzern umzustellen. Wenn es bemerkt, dass es zum Beispiel besser zusammenarbeiten könnte, macht es erst einmal auf der Teamebene etwas anders und schaut: Wie hat das funktioniert, und wie kann es vielleicht noch besser funktionieren? Das macht das Team so lange, bis es überzeugende Ergebnisse vorweisen kann: schnellere Durchlaufzeiten etwa oder ein besseres Kundenfeedback. Erst dann fragt es nach mehr Ressourcen, um das Projekt auszuweiten, heißt, die Prozesse noch weiter zu verfeinern und andere Teams dabei zu unterstützen, sie ebenfalls einzuführen. „Je kleiner die Lösung zunächst ist, desto eher komme ich schnell und unkompliziert voran, kann ausprobieren und nachjustieren“, betont Kiwitt.

Diese Art und Weise, Veränderungen anzugehen, hat laut der Expertin für agiles Arbeiten auch einen psychologischen Effekt: Der Glaube an die Selbstwirksamkeit der einzelnen Mitarbeiter steigt. „Sie sehen, dass sie Dinge im gesamten Konzern bewegen können, dass sie einen Unterschied machen können“, sagt Kiwitt. Je klarer ihnen das wird, desto mehr würden hemmende Gedanken wie „Bei so vielen Mitarbeitern ist doch bestimmt schon ein anderer auf die Idee gekommen“ oder „Wahrscheinlich trete ich mit meiner Idee irgend jemandem im Konzern auf die Füße“ in den Hintergrund rücken. Stattdessen entwickle sich eine Art proaktive Veränderungskultur, getragen von der Einstellung: „Ich habe einen Spielraum und den nutze ich aus, bis mir jemand auf die Finger haut.“

Und wenn ein Problem erkannt wird, dem sich bisher kein Mitarbeiter von sich aus angenommen hat? Dann soll das Prinzip der Freiwilligkeit zum Einsatz kommen, das mit steigender Selbstwirksamkeitsüberzeugung der Mitarbeiter nach Meinung von Kiwitt immer besser funktioniert. Man fragt einfach ins Unternehmen hinein: Wer hat Lust und glaubt, dass er dieses Problem für uns lösen kann? „Die Mitarbeiter, die das glauben, weil sie an sich glauben, werden mit Feuer und Flamme dabei sein.“

Keine Maßnahme wird künstlich am Leben erhalten

Um eine Kultur zu erreichen, in der Freiwilligkeit ein gelebtes Prinzip ist, muss auch der Weg dorthin entsprechend gestaltet werden, ist Krüger als Verantwortlicher für den Kulturwandel überzeugt. Daher gilt: Alle Initiativen, die sein Team anstößt, müssen sich selbst tragen: „Nach dem ersten Schritt müssen sich Mitarbeiter finden, die freiwillig Verantwortung für Projekte und Inhalte übernehmen, weil sie darin auch einen Wert für ihren Bereich und ihre eigene Arbeit sehen.“ So werden die Initiativen zum Selbstläufer. Künstlich am Leben gehalten hingegen wird nichts – ob es sich um ein neues Kompetenzcenter oder ein neues Veranstaltungs- oder Kommunikationsformat handelt. Den Anteil angeschobener, aber nicht weitergeführter Projekte schätzt Krüger auf 90 Prozent. An die hohe Abbruchquote musste er sich erst gewöhnen, mittlerweile betrachtet er sie als normal. „Die zehn Prozent der Projekte, die wirken, bringen den Konzern dafür spürbar voran.“

Auch eine andere wichtige Quote im Prozess hat sich in der Wahrnehmung des Organisationsentwicklers relativiert. Als er den Bereich „Kulturwandel 4.0“ übernahm, dachte Krüger, „um im Konzern Wirkung zu erzielen, benötige ich eine riesige Durchdringung und muss mindestens 50 Prozent der Mitarbeiter überzeugen.“ Im Laufe des Kulturwandels stellte er jedoch fest: „Man braucht 15 bis 20 Prozent richtig engagierte Mitarbeiter. Die reißen dann die nächsten 60 Prozent im Unternehmen mit.“

Klinken putzen in den einzelnen Unternehmen der Gruppe musste Krüger bislang ebenfalls nicht. Die Geschäftsführer berichten sich gegenseitig, welchen Mehrwert der Kulturwandel schafft, und sorgen so für positive Ansteckungseffekte auf der obersten Ebene, die dann bei den Ebenen darunter mit den Ideen oft offene Türen einrennt. „Wir haben in jeder Organisation Leute, die Lust haben, sich mit diesen Themen zu beschäftigen. Was ihnen gefehlt hat, war die Erlaubnis dazu“, sagt Krüger. Eine wichtige Botschaft bei Otto lautet daher: Der Vorstand findet es toll, wenn man sich für Veränderung einsetzt.

So wie Kristine Kiwitt das macht – und auch schon machte, bevor sie die Leitung des Agile Centers übernahm. Ursprünglich folgte sie bei Otto dem Pfad einer klassischen Konzernkarriere. Sie fing als Business Analyst in der IT an, wurde zunächst Projekt-, dann Abteilungsleiterin. Gemeinsam mit anderen Führungskräften im Bereich Business Intelligence bemerkte sie jedoch, dass die bisherige Art zu führen und das klassische Projektmanagement nicht mehr die gewünschten Ergebnisse brachten. Zunehmend stellte sie ihren Bereich daher auf agiles Management um, womit sich auch Kiwitts eigene Rolle veränderte – hin zu der eines Scrum Masters, der nicht in erster Linie für den fachlichen Inhalt, sondern für die Qualität der Zusammenarbeit im Team verantwortlich ist.

Als der Vorstand die Mitarbeiter aufrief, sich für den Kulturwandel zu engagieren, war Kiwitt sofort dabei: Denn sie erkannte in der Initiative die Möglichkeit, die Ideen, die sie in ihrer Abteilung bereits umsetzte, über deren Grenzen hinaus in der Unternehmensgruppe zu verbreiten. Dass sie mit diesen nicht sofort Begeisterungsstürme bei allen Führungskräften auslösen würde, war ihr von Anfang an klar. „Schließlich erfordern die neuen Arbeitsweisen, sich von früheren Führungsgrundsätzen und Überzeugungen zu verabschieden, die ihnen oftmals über Jahre oder gar Jahrzehnte im Konzern in Fleisch und Blut übergangenen sind.“ Schritt für Schritt, so ist die agile Pionierin jedoch überzeugt, werden sie die neuen Formen von Führung und Zusammenarbeit kennen und schätzen lernen, allein schon deshalb, „weil sie ihnen in vielen Punkten die Arbeit deutlich erleichtern.“

Das Du hat die Kommunikation schneller gemacht

So wie ein Großteil der Belegschaft laut Ottos Kulturwandelbeauftragtem Krüger heute schon viele Neuerungen nicht mehr missen möchte – etwa die direktere Kommunikation mit dem Vorstand, dessen Mitglieder seit einem Vorstoß des damaligen Vorstandsvorsitzenden Horst Otto Schrader genauso wie jede andere Führungskraft im Konzern geduzt werden. Der Wandel hin zur direkteren (Duz-)Kultur klingt vielleicht nicht nach aufregender Änderung, bringt aber in vielen Punkten eine immense Zeitersparnis mit sich, wie Krüger an seiner eigenen Art zu arbeiten erklärt. So schreibt er etwa keine förmlichen Mails mehr an den Vorstandsvorsitzenden Alexander Birken, an die er ausgearbeitete Konzepte hängt, sondern schickt „Alexander“ oft nur Bullet-Points, die dann als Gesprächsgrundlage dienen.

Über alle Hierarchiestufen bringen die Mitarbeiter des Konzerns immer häufiger von sich aus neue Ideen ein – und sind auch dadurch ermutigt, dass sie von ganz oben genau dazu immer wieder aufgefordert werden. So wurden etwa vor rund eineinhalb Jahren 30 Mitarbeiter unter 30 Jahren gebeten, über neue Geschäftsmodelle nachzudenken. Dabei entwickelten sie unter anderem den Vorschlag, weiße Ware nicht zu verkaufen, sondern zu vermieten. Zur Umsetzung der Idee stellte die Geschäftsführung den Mitarbeitern eine Million Euro zur Verfügung und ließ sie erst einmal ein Jahr machen. Und die Mitarbeiter machten ihre Sache gut. Kürzlich wurde ihr Projekt als Otto now ausgegründet.

Für Krüger ist das ein Beispiel dafür, wie die Saat des von ihm begleiteten Kulturveränderungsprozesses in der Otto Group mehr und mehr aufgeht. In mittlerweile rund 20 Unternehmen des Konzern ist der Wandel bereits sehr deutlich sichtbar, an allen Ecken und Enden entstehen dort Projekte und Initiativen wie Fuckup-Nights, Bar Camps, Hackathons und Marktplätze für innovative Geschäftsmodelle. Und in noch mehr Unternehmen werden laut Krüger bereits agile Tools und Methoden genutzt. Zudem werden die neuen Formen der Zusammenarbeit im aktuellen Geschäftsbericht 2016/17 ausführlich vorgestellt. „Als ich die neue Rolle übernommen habe, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass sich in gerade einmal einem guten Jahr bereits so viel verändert haben wird“, stellt Tobias Krüger fest. Und dabei nehme der Prozess gerade erst Fahrt auf.

Andrea Bittelmeyer