managerSeminare, Mai 2016
Von Startups lernen
Startups agieren schneller auf dem Markt, reagieren flexibler auf Entwicklungen und Innovationen – und ziehen in der digitalisierten Wirtschaftswelt immer häufiger an alteingesessenen Unternehmen vorbei. Was die Etablierten von den Newcomern lernen können und wie der Wandel in Richtung einer agilen Startup-Kultur gelingt.
Als Dr. Jean-Jacques van Oosten, Chief Digital Officer der Rewe Group, das Online-Geschäft des Lebensmittelkonzerns aufbauen sollte, stand für ihn fest: Dafür muss ein neues Unternehmen außerhalb der gewachsenen Firmenstrukturen gegründet werden. Eines, das mit flachen Hierarchien auskommt, sich konsequent an den Wünschen der Kunden orientiert und schnell und flexibel am Markt agieren kann. Denn, so war sich van Oosten sicher: Nur mit einem „kleinen Schnellboot“ außerhalb des Konzerns kann der Konkurrenzkampf um den Lebensmitteleinkauf im Netz gewonnen werden.
Van Oosten überzeugte den Rewe-Vorstand, das firmeneigene Startup Rewe Digital wurde mit einer Mischung aus frisch rekrutierten Mitarbeitern und einem Kernteam aus der Rewe Group aufgebaut. In einem eigenen Gebäude, in dem Experten für Marketing, Softwareentwicklung und Vertrieb im Großraumbüro zusammenarbeiten, gleichberechtigt im Team schnelle Entscheidungen treffen und sich unmittelbar mit ihrem obersten Chef abstimmen. „Im Konzern kann es etwas länger dauern, bis man einen Termin beim Vorstand bekommt. Bei uns ist das aufgrund der Sitzplatzsituation, bei dem auch der Geschäftsführer im Großraumbüro sitzt, noch am selben Tag möglich“, erklärt Stefan Leinesser, HR-Beauftragter bei Rewe Digital.
Der Lebensmittelkonzern hat damit besonders konsequent auf eine Erfahrung reagiert, die etablierte Unternehmen immer häufiger machen: Auf schnelllebigen, kaum berechenbaren Märkten ziehen flexible und agile Startups an ihnen vorbei. Berühmtes Beispiel: Während die großen Modekonzerne im Internet strauchelten, avancierte das Berliner Startup Zalando zu Europas größtem Online-Modehändler. Die Gründer sind heute die jüngsten Vorstände im M-DAX. Gerade den Uni-Abschluss in der Tasche ließen sie zahlreiche gestandene Manager ziemlich alt aussehen. „Viele Unternehmen schauen neidisch auf die jungen Überflieger“, sagt Peter Härzke von der Unternehmensberatung EY.
Startups scheuen nicht den disruptiven Wandel
Dass die Startups den Konzernen in der digitalisierten Wirtschaftswelt den Rang ablaufen, liegt nicht nur an ihrer größeren Reaktionsgeschwindigkeit, sagt Professor Julian Kawohl, der an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin zu agilen und innovativen Organisationsformen forscht: „Entscheidend ist vor allem ihre Fähigkeit zum disruptiven Wandel.“ Im Gegensatz zu Corporates – so nennt Kawohl die etablierten Konzerne – tun sich Startups ihm zufolge nämlich nicht schwer damit, mit den Regeln ihrer Branche radikal zu brechen – die private Übernachtungsbörse AirBnB und der Nachrichtendienst WhatsApp lieferten dafür beste Beispiele.
Der erste Reflex vieler Konzerne auf die neue, agile Konkurrenz bestand darin, die jungen Unternehmen aufzukaufen, um von ihrem Tempo und ihrer Innovationsfähigkeit zu profitieren. Im nächsten Schritt gingen sie dazu über, Förderprogramme für Startups – sogenannte Accelerator-Programme – aufzusetzen und Inkubatoren zu gründen – Startup-Schmieden, über die sie junge Gründer finanzieren und sich mit diesen vernetzen. Laut einer Studie der HTW Berlin verfügte im Herbst 2015 ein Drittel aller DAX-Unternehmen über einen Inkubator.
Nach Ansicht von Kawohl ist es damit allerdings noch lange nicht getan. Bei jedem so agierenden Unternehmen werde man sich über kurz oder lang die Frage stellen: Löse ich damit mein strategisches Problem? Muss ich nicht sehr viel weiter gehen und meine eigene Reaktionsgeschwindigkeit und Innovationsfähigkeit erhöhen? Denn, so ist sich Kawohl sicher: „Alle Geschäftsmodelle werden künftig eine digitale Komponente haben.“ Und demnach auch kein Unternehmen vor der neuen, schnellen und kaum noch planbaren Form des Wirtschaftens verschont bleiben.
Eine Startup-Kultur lässt sich nicht überstülpen
Mit dem Holzhammer lässt sich diese strategische Herausforderung nicht lösen. „Die vermeintlich naheliegende Lösung, dem Konzern einfach eine Startup-Kultur überzustülpen, funktioniert nicht“, konstatiert Kawohl. Versuche dieser Art scheitern seiner Ansicht nach vor allem, weil Führungskräfte ihre Weisungsbefugnisse nicht abgeben wollen, und an ihren Titeln, Planungsmethoden und Vergütungsmodellen festhalten.
„In der Konzernzentrale wäre die Umsetzung der neuen Managementmethoden sicherlich schwieriger geworden“, sagt auch Stefan Leinesser von Rewe Digital. Das unabhängige Startup wurde gegründet, um unmittelbar von der neuen Art des Wirtschaftens zu profitieren und schnelle Erfolge zu erzielen. Diese jedoch sollen den digitalen Ableger nicht nur wettbewerbsfähig machen, sondern auch die Digitalisierung des gesamten Konzerns vorantreiben. Die klassischen Unternehmensbereiche sollen von der neuen Firmenkultur angesteckt werden.
Zu diesem Zweck stehen die Türen des firmeneigenen Startups interessierten Mitarbeitern aus dem gesamten Konzern offen – und von diesen scheint es einige zu geben: Pro Woche sind bei Rewe Digital ein bis zwei Gruppen zu Gast, die sich zum Beispiel von den beschreibbaren Wänden inspirieren lassen, auf denen im Sinne erhöhter Transparenz die Fortschritte der selbstorganisierten Teams festgehalten werden. Oder aber insgesamt von der agilen Softwareentwicklungsmethode Scrum, die neue Regeln für die Zusammenarbeit im Team vorgibt. Leinesser: „Jeder nimmt mit, was ihn überzeugt und was in seinen Arbeitskontext passt.“ Somit versteht sich das neue Unternehmen Rewe Digital, das im Dezember 2015 rund 300 Mitarbeiter zählte, als Keimzelle für eine neue Form des Managements, von der der gesamte Konzern profitieren soll.
Telekom: Startup-Ideen im gesamten Unternehmen einpflanzen
Eine solche Strategie der internen Infizierung – oder anders formuliert des freiwilligen Adaptierens – verfolgen auch andere Konzerne. Bei der Telekom etwa ist es kein Tochterunternehmen, sondern eine Abteilung, die den Startup-Virus verbreiten soll. Das Team Shareground, das unabhängig von den Konzernstrukturen arbeitet, wurde unter anderem mit der Aufgabe betraut, Startupideen und -techniken im gesamten Konzern sichtbar zu machen und möglichst nachhaltig einzupflanzen.
Dazu begleitet das 14-köpfige Shareground-Team reale Projekte: die Einführung von Omni-Channel-Kundenerlebnissen oder die Transformation des Kundenservices mittels eines „Nerd-Campus“. Zu den Methoden, die der Shareground den Telekommitarbeitern dabei nahebringt, zählt unter anderem die Innovationsmethode Design Thinking, bei der interdisziplinäre Teams bereichsübergreifend Ideen entwickeln – und anschließend auch hier mit Scrum agil umsetzen.
Die Rechnung scheint aufzugehen: „In allen Bereichen, die wir bisher begleitet haben, fand ein starkes Umdenken statt“, erklärt Shareground-Leiter Reza Moussavian. Dadurch entstehe ein Sog, die Nachfrage nach Beratung und Unterstützung durch den Shareground wachse stetig. Moussavian: „Wir setzen rein auf eine Pull-Logik und bekommen weit mehr Anfragen als wir abdecken können.“ Um die neuen Arbeits- und Denkweisen noch schneller verbreiten zu können, wurde jetzt auch die HR-Abteilung mit ins Boot geholt.
Groß zu werden ist wichtiger als das schnelle Geld
Wie die anderen Verfechter einer neuen agilen Firmenkultur hat auch Moussavian die besondere Vorgehensweise erfolgreicher Startups studiert, um sie für den Großkonzern nutzbar zu machen. Seine Beobachtung: „Konzerne optimieren bestehende Geschäftsmodelle. Startups hingegen streben nach den `Moonshots` – den bahnbrechenden Innovationen.“ Und zwar nach solchen, die echten Mehrwert liefern. Moussavian: „Startups machen zum Beispiel das Reisen günstiger oder ermöglichen es, ohne Zusatzkosten über das Handy zu kommunizieren.“ Im Blick hätten sie dabei immer die globale Skalierbarkeit. Lieber wollten sie schnell groß werden als langsam zu wachsen. Oftmals ziehen sie sich laut Moussavian zunächst so genannte Freemium-Nutzer heran. Einnahmequellen werden später gesucht.
Ausführlich beschrieben ist das Startup-Erfolgsrezept im Buch „Lean Startup“ von Eric Ries. Weil Ries, erfolgreicher Internetunternehmer aus dem Silicon Valley, im Zuge seiner Beratungsarbeit für Großunternehmen gemerkt hat, dass Unternehmens-CEOs und Startup-Gründer Antworten auf dieselben Fragen suchen, schreibt er gerade ein neues Buch, das Ende 2016 erscheinen soll: Im „The Startup Way“ will er erklären, wie sich die Startup-Techniken auf Großunternehmen übertragen lassen.
Dabei soll es vor allem, wie Ries in der Vorankündigung zum Buch verrät, um die Frage gehen, wie die vorherrschende Denkweise im Management überwunden werden kann, die unerschütterlich auf einen gründlich recherchierten Plan vertraut. Darin liegt der Knackpunkt in der digitalisierten Wirtschaftswelt, wie Ries und andere Experten sagen. Denn Planung ist ein Werkzeug, das nur in einer langen und stabilen Betriebsgeschichte funktioniert. Im Startup-Umfeld jedoch ist eine andere Vorgehensweise gefragt – das, wie Ries es nennt, Pivotieren.
Das Geschäftsmodell in das Ergebnis von Experimenten
Und das geht so: Ein minimal funktionsfähiges Produkt wird eingeführt. Wird dieses von den Kunden entweder gar nicht oder nicht gut genug angenommen, wird es den Kundenwünschen angepasst und erneut getestet – so lange bis der Durchbruch erzielt wird. Anders formuliert: Ein funktionierendes Geschäftsmodell ist in der Startup-Welt nicht das Ergebnis eines über Monate oder gar Jahre ausgetüftelten Businessplans, sondern entsteht vielmehr aus einer Reihe von Experimenten. Dahinter steht zum einen zumeist wirtschaftliche Notwendigkeit. „Ein Plan für die ersten zwei Jahre war gar nicht möglich. Das Geld hätte nicht einmal für ein Jahr gereicht“, gibt Zalando-Mitgründer David Schneider beispielhaft zu Protokoll.
Zum anderen spielt dabei immer dieser Gedanke eine Rolle: Ein Produkt am Markt zu testen ist nicht dasselbe wie den Kunden im Vorfeld nach seinen Wünschen zu fragen. Oft kann der Kunde nämlich gar nicht formulieren, was er will. Besser also: Man bietet ihm ein Produkt oder eine Dienstleistung an und beobachtet seine Reaktion darauf. Bei Zalando wurde dieses für Startups typische Austesten übrigens auch nach dem großen Erfolg beibehalten: So werden etwa neue Dienste zunächst immer nur in einem Land eingeführt und anschließend entweder für gut befunden, verändert oder verworfen.
Markt-Experimente werden ergebnisoffen durchgeführt
Die meisten Startups bemühen sich, die Experimente mit ihrer Dienstleistung oder ihrem Produkt als weit als möglich ergebnisoffen zu gestalten. So kann sich in der Versuchsphase nicht nur die Gestaltung des Angebots ändern, sondern sogar die Zielgruppe. Kawohl: „Es ist durchaus möglich, dass ein Unternehmen etwa eine App für Ärzte entwickelt und dann feststellt, dass sie für Patienten sehr viel nützlicher ist.“ Dieses Vorgehen des Pivotierens verleiht Startups laut dem Managementforscher besondere Flexibiliät und gegenüber Corporates oft einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil – denn dort wird in der Regel das Gegenkonzept gefahren: „Wenn meine Geschäftsidee nicht aufgeht, bekomme ich keinen Bonus und werde auch nicht befördert“, so Kawohl. Für die Experimentierfreude im Unternehmen sei dieser Mechanismus tödlich.
Bei Rewe Digital ist Experimentierfreude dagegen explizit gefordert, dort wird in bester Startup-Manier experimentiert oder genauer gesagt pivotiert. Stefan Leinesser beschreibt es bildhaft so: „Wir sind das kleine Schnellboot mit Anschluss an den Konzern, der allein aufgrund seiner Größe seine Richtung nur schwer verändert. Wir hingegen fahren schnell aufs Meer hinaus und kommen manchmal auch lädiert und mit Beulen zurück, sind aber glücklich, weil wir neue Welten entdeckt haben. Dann wird repariert, und wir starten neu.“
Der Axel-Springer-Verlag fährt man schon länger auf diesem Kurs – und zwar nicht mehr nur mit Tochterunternehmen, sondern bereits mit dem gesamten Konzern. Die Infizierung mit dem Startup-Virus über zugekaufte Unternehmen ist hier schon weit fortgeschritten. „Wir arbeiten heute viel kreativer und schneller. Es ist Standard, Dinge auszuprobieren, zu experimentieren“, erklärt Dr. Alexander Schmid-Lossberg, der als Leiter des Geschäftsführungsbereichs Personal bei Axel Springer die Digitalisierung begleitet. Die Schlagzahl, mit der die Redaktionen und Produktteams des Unternehmens Innovationen produzieren, ist laut dem HR-Manager extrem hoch. Natürlich habe nicht alles sofort Marktreife, und manches funktioniere vielleicht gar nicht. „Aber genau darum geht es – sich etwas zu trauen, keine Angst vor Fehlern zu haben. Das ist die Art von Kultur, die wir fördern“, betont Schmid-Lossberg.
Axel Springer: Startup-Standards als Zielmarken im Digitalisierungsprozess
Der Wandel weg von einer behäbigeren Corporate-Kultur in Richtung einer agileren, schnelleren Kultur, wie sie Startups auszeichnet, startete bei Axel Springer bereits vor mehr als zehn Jahren. Und zwar parallel zum Digitalisierungsprozess des Unternehmens. „Digitalisierung ist ohne enge Vernetzung mit der Startup-Szene nicht denkbar“, erklärt Schmid-Lossberg. Mit Beteiligungen an vielversprechenden Unternehmen der internationalen Digitalwirtschaft und dem Start des Accelerators „Axel Springer Plug and Play“ sei der Verlag daher ganz bewusst einen großen Schritt in die Welt der Frühphasen-Startups gegangen – und ist mittlerweile schon ziemlich weit gekommen: Digitale Geschäftsmodelle tragen bereits mehr als 60 Prozent zum Konzernumsatz bei.
Der Konzern digitalisiert sich aber auch als Ganzes. Zentrale Treiber dabei sind die Vernetzung und der Wissenstransfer zwischen den verschiedenen Unternehmensbereichen. Um beides zu fördern, hat Axel Springer unter der Marke move eine Reihe interner Austauschformate geschaffen. Bei diesen Veranstaltungen orientiert man sich wieder an den Standards, die Startups bei Themen wie Kultur und Arbeitsweise setzen. So stehen zum Beispiel „Big Data“ oder „agiles Arbeiten“ auf dem Programm. Bereits im ersten Jahr haben 5.000 Mitarbeiter an einer move-Veranstaltung teilgenommen.
Darüber hinaus nutzt der Verlag noch eine weitere Möglichkeit für Corporates, dem gesamten Unternehmen Startup-Geist einzuhauchen: Er lässt die Mitarbeiter in interdisziplinären Teams digitale Projekte entwickeln und umsetzen. Der organisatorische Rahmen dafür nennt sich Talente Campus. Und auch die Telekom animiert ihre Mitarbeiter zum Entwickeln neuer Produkte und Geschäftsmodelle. Bereits 3.600 Mitarbeiter haben dies im Rahmen des sogenannten Magenta-MOOC getan, den der Konzern im vergangenen Jahr ins Leben gerufen hat.
Mitarbeiter mit Gründergeist gewinnen und halten
Gleichzeitig versuchen viele Konzerne Gründergeist zu rekrutieren: „Sie suchen händeringend Mitarbeiter, die neue Projekte vorantreiben, die Enabler für eine Idee sind“, sagt Peter Härzke von EY, der große Unternehmen bei der Verjüngung unterstützt. Damit diese kommen und vor allem auch bleiben, müssen sich laut dem HR-Experten jedoch die Strukturen ändern. Wichtig sei etwa, dass es auch jungen Mitarbeitern ohne große Berufserfahrung erlaubt ist, im Unternehmen für ihre Ideen zu werben und deren Finanzierung zu kämpfen. „Und sie sollten dann auch die Verantwortung für das Budget bekommen“, betont Härzke.
Mögliche flankierende Maßnahme, um die Verbreitung des Startup-Geistes im Unternehmen zu beschleunigen: „Diejenigen Führungskräfte, die die neue Kultur bereits verinnerlicht haben, weiter ermutigen und als Katalysatoren einsetzen“, so Härzke. Google macht das zum Beispiel. Dort werden die Führungskräfte zwei Mal jährlich in einem 360-Grad-Feedback bewertet. Anhand der Ergebnisse werden Positionen neu vergeben: Wer entsprechend der gewünschten agilen Unternehmenskultur agiert, wird in Bereiche versetzt, die bei diesem Aspekt bislang noch nicht so erfolgreich waren.
Grundvoraussetzung, damit solche Maßnahmen Früchte tragen: Silodenken abschaffen – schließlich geht es um den Erfolg des gesamten Unternehmens. So werden bei Rewe Digital in einem wöchentlichen Meeting allen Mitarbeitern aus IT, Marketing und Vertrieb gemeinsam die Zahlen für das neu gegründete Unternehmen präsentiert, damit sie den gesamtunternehmerischen Erfolg ihres Wirkens vor Augen haben. Wichtig ist jedoch auch der ganzheitliche Blick auf den Konzern. So wird in der Rewe Group mittlerweile eine Omni-Channel-Strategie, bei der sich stationärer und Online-Handel gegenseitig befruchten, als zukunftsweisendes Thema betrachtet.
Wendigkeit und Sicherheit: Der USP von Firmen-Startups
Dass es bei aller Vorbildfunktion klassischer Startups für Corporate-Startups wie Rewe Digital trotzdem erhebliche Unterschiede zwischen diesen beiden Varianten gibt, liegt auf der Hand. Leinesser, der – bevor er zu Rewe wechselte – 20 Jahre lang in der Berliner Startup-Szene gearbeitet hat, benennt die wohl wichtigste, die Finanzierung. So ist das Überleben des konzerneigenen Online-Lebensmittelhändlers gesichert, bei einem typischen Startup hingegen kann jederzeit das Geld ausgehen oder das Unternehmen verkauft werden. Nicht zuletzt aus diesem Grund kann bei Rewe Digital langfristiger und nachhaltiger geplant werden. Leinesser: „Wir bieten das Beste aus beiden Welten: die Sicherheit des Konzerns und die Agilität des Startups.“ Bei seinem Unternehmen spricht er deshalb auch von einem „Startup für Erwachsene“. Die Mitarbeiter haben 30 Tage Urlaub, das Unternehmen zahlt Marktgehälter. Diese Mischung kommt auch auf dem Bewerbermarkt gut an. Leinesser: „Von den Kandidaten, die wir einstellen wollen, sagen 95 Prozent zu.“
Darüber hinaus bedeutet eine Annäherung an die Startup-Kultur nicht, dass es zwischen verschiedenen Unternehmensbereichen nicht auch weiterhin Unterschiede geben kann. „Eine Entwicklungsredaktion arbeitet nun einmal anders als zum Beispiel das Controlling“, verdeutlicht Schmid-Lossberg. Und auch bei Rewe Digital arbeitet der Vertrieb in weit klassischeren Strukturen als die agilen Entwickler. Das ist vollkommen in Ordnung, meint auch Leinesser. Erlaubt sei, was auf dem Markt funktioniert. Denn, so erklärt der HR-Experte: „Unser Ziel ist es schließlich nicht, das agilste Unternehmen zu werden. Ziel ist, Deutschlands größter Online-Lebensmittelhändler zu werden.“
Wohin die Verjüngungskur der etablierten Unternehmen nach Startup-Vorbild gehen wird, inwieweit sich die Kulturen der Corporates an denen der Startups angleichen werden, wagen selbst die Experten nicht vorherzusagen. Denn nach bester Startup-Manier betrachten die Protagonisten dieser Entwicklung sie als Experiment, bei dem immer wieder neue Instrumente eingeführt, geprüft, verändert oder auch wieder verworfen werden. „Es geht gar nicht darum, eine bestimmte Kultur zu verordnen“, sagt Schmid-Lossberg von Axel Springer. „Der kulturelle Wandel ist ein fließender Prozess.“
7 Lektionen von Startups
Startups funktionieren anders als Großunternehmen – das liegt in der Natur der Sache. Trotzdem können sich etablierte Unternehmen in mancherlei Hinsicht eine Scheibe von den jungen, wendigen Firmen abschneiden.
1. Am Anfang steht die Innovation
In einem Startup geht es nicht um das Ausführen eines etablierten Geschäftsmodells, sondern immer um eine bahnbrechende Innovation, die die Regeln einer Branche auf den Kopf stellt und dem Kunden echten Mehrwert bietet. Beispiele sind Plattformen wie AirBnB, die das Übernachten weltweit günstiger machen oder der Handydienst WhatsApp, der kostenpflichtige SMS-Nachrichten überflüssig gemacht hat.
2. Erst das Wachstum, dann der Gewinn
Startups streben zunächst nach globalem Wachstum und wollen weltweit möglichst viele Kunden gewinnen. Erst danach denken sie an Einnahmemodelle. Die Marktpräsenz ist dann ein wichtiges Pfund, mit dem sie in diesem Prozess wuchern können.
3. In Plattformen denken und nicht in Produkten
Mit Ebay und dem Marketplace bei Amazon fing es an: Startups denken in Plattformen und nicht in Produkten. Das bedeutet: Sie können ohne große Produktionskosten agieren und ihr Geschäftsmodell auch schnell erweitern, verändern und anpassen.
4. Versuch – Irrtum – Anpassen
Erfolgreiche Startups schreiben nicht über Monate oder gar Jahre an einem vermeintlich perfekten Businessplan. Sie gehen mit einem minimal funktionsfähigen Produkt an den Markt und testen die Reaktion der Kunden. Aufgrund der Ergebnisse passen sie das Produkt den Kundenbedürfnissen an. Der Fachbegriff für diese Vorgehensweise lautet Pivotieren.
5. Flache Hierarchien
In Startups arbeiten die Mitarbeiter gleichberechtigt im Team. Dazu nutzen sie neue Formen der Zusammenarbeit wie sie etwa die Projektmanagement-Methode Scrum vorgibt. Eine Innovationsmethode für hierarchiefreie Strukturen ist das Design Thinking.
6. Corporate Entrepreneurship
In Startups ist Unternehmergeist gefragt, schließlich geht es hier um neue Geschäftsmodelle. Um diesen im Konzern zu fördern, müssen die Mitarbeiter zum Experimentieren ermutigt werden. Ein gescheitertes Geschäftsmodell darf nicht zu einem Karriereknick führen.
7. Ganzheitliches Denken
In einem Startup gibt es kein Silodenken. Alle Mitarbeiter brennen für die eine Idee und das eine Unternehmen.
ANDREA BITTELMEYER